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Die Rückkehr Europas

von Olgerd Eichler

In der vergangenen Dekade erlebten die Vereinigten Staaten die längste Phase guter Konjunktur. Die US-Wirtschaft boomte. Investitionen, Konsumausgaben und Gewinne – vieles schoss in den Himmel. Das spiegelte sich auch in den Kursständen der US-Aktienmärkte wider. Nun könnte sich das Blatt wenden und die Outperformance amerikanischer Aktien sich ihrem Ende nähern. Speziell europäische Werte stehen hingegen vor einer Aufholbewegung. Der Abgesang auf Europa war verfrüht.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 war eine Zäsur. Auch für die USA. Die US-Administration stützte die Wirtschaft mit umfangreichen Hilfspaketen und Konjunkturmaßnahmen. Zudem wurden umfangreiche Regulierungen für den Finanzsektor erlassen. Was 2010 einsetzte und bis heute währt, war ein beispielloser Aufstieg der US-Ökonomie. Doch mitunter auch teuer erkauft. Denn in den folgenden Jahren stiegen die Staatsschulden fast schon ins Unermessliche. Die niedrigen Leitzinsen machten dies möglich; der Zeitpunkt war sozusagen günstig. So summierten sich die Staatsschulden Ende 2016 auf nahezu 20 Billionen US-Dollar. Das Schuldenmachen hat auch unter der Trump-Administration kein Ende gefunden. Der jetzige Präsident setzte sogar noch einen drauf. Ende 2017 wurde ein gigantisches Steuersenkungspaket abgesegnet; die Unternehmenssteuer auf 21 Prozent gesenkt. Ein weiterer Stimulus. Die initiierte Steuerreform heizte die Wirtschaft weiter an; das BIP kletterte auf einen neuen Höchststand. America first. Und Europa?

Die vergangenen zehn Jahre in Europa waren durchaus turbulent. Die permanente Sorge und Diskussionen um unsere Gemeinschaftswährung und ein mögliches Auseinanderbrechen der Währungsunion waren dominierende Themen. Das Brexit-Votum und der Umgang damit zeigten ebenfalls deutlich, wie es auf den ersten Blick um Europa bestellt war. Der Kontinent blieb vermeintlich im Schatten, während die USA vergleichsweise weiter erstrahlte. Und obgleich auch die EZB den Leitzins bis auf 0% im Frühjahr 2016 senkte, galt in der EU weiterhin das Austeritätsprinzip. Die Neuverschuldung sank, während sie beim Partner in Übersee stieg.

Heutzutage kommt uns Europäern diese Sorgsamkeit gerade recht. Denn allen Kassandrarufen zum Trotz lebt Europa. 2020 jährt sich zum 70. Mal die Geburtsstunde der Einigung Europas und wir nehmen verstärkt Lebenszeichen wahr. Zeichen der Stärke, der Einheit in der Vielfalt. Ausgangspunkt ist wiederum eine Zäsur. Die Corona-Krise trägt dazu bei, dass sich die Vorzeichen ändern. Nun kann und muss man aus dem Vollen schöpfen, um die Wirtschaft wieder auf Trab zu bringen. Geld spielt sozusagen keine Rolle mehr. Und dank des soliden Haushaltens der Vergangenheit ist das leichter möglich.

Zwar leidet auch Europa immer noch stark unter der COVID-19-Pandemie, regional aber differenziert. Volkwirtschaften wie die deutsche sind auf einem wirtschaftlichen Erholungskurs. So hat der ifo-Index jüngst nochmals zugelegt. Dem Handel geht es vergleichsweise gut. Dank arbeitsmarktpolitischer Instrumente wie Kurzarbeit ist die Beschäftigungslage nicht dramatisch und die Mehrwertsteuersenkung stimuliert zusätzlich. Auch das Bankensystem ist heute deutlich stabiler als in der vergangenen Krise. Insgesamt steht die Europäische Union während der Corona-Pandemie fest zusammen und investiert gemeinsam in die Zukunft. Von den großen Wirtschaftsräumen könnte Europa die Krise somit mit am schnellsten hinter sich lassen und der europäische Wiederaufbauplan dürfte europäischen Aktien zusätzlich Auftrieb geben. Hinzu kommt, dass Krisen oftmals einen Katalysator für strukturellen Wandel darstellen und Investitionen in langfristige Trends wie die Digitalisierung verstärken. Das könnte die europäische Aufholjagd wiederum beschleunigen und den Abstand zu den USA verkürzen. Vorausgesetzt, Europa schwächt sich nicht selbst. Und die Vereinigten Staaten? Taumelt das Land?

Fest steht, die Gräben und Spaltungen der Gesellschaft, insbesondere in der nunmehr heißen Phase des Präsidentschaftswahlkampfs, sind sehr ersichtlich und bedenklich. Der gesellschaftliche Kitt fehlt. Die US-Gesellschaft läuft Gefahr, sich auseinanderzudividieren. Präsident Trump hat in seiner Amtsperiode diese Entwicklung sicherlich noch verstärkt.

Wie markant der Aufholeffekt in Europa sein könnte, wird bei einem Blick auf die Kursverläufe der Indizes deutlich. Seit März 2009 hat sich der S&P 500 fast verfünffacht, während es beim europäischen Pendant Stoxx 600 in diesem Zeitraum nur zu einer Verdoppelung kam. Auch der Blick auf die Bewertungen spricht eine ähnliche Sprache.

Die Zeichen stehen somit gut für ein Comeback Europas. Anleger sollten ihre Positionierung überdenken und sich das Chancenpotenzial des Kontinents vergegenwärtigen.

Autor: Olgerd Eichler, Portfoliomanager des MainFirst Top European Ideas Fund & MainFirst Germany Fund

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